Simone Vogt

DIE KUNST DER ROMANIK – EIN MEISTER OHNE NAMEN

(aus: Haymann, Florian/Kötz, Stefan/Müseler, Wilhelm (Hg.): Runde Geschichte : Europa in 99 Münz-Episoden, Oppenheim am Rhein 2020, S. 144-147)

Bei einem Durchmesser von 30 Millimetern wiegt die vorliegende Münze weniger als ein Gramm. Sie ist also hauchdünn und deshalb nur einseitig geprägt. Die Einseitigkeit ist ungewöhnlich und gibt den Münzen dieser Art ihren Namen: „Brakteat“ ist hergeleitet von lateinisch bractea, was „dünnes Blech“ bedeutet. Gelehrte des 17. Jh. hatten diese Bezeichnung eingeführt, die bis heute in der Numismatik gebräuchlich ist. Für die Menschen damals waren diese Geldstücke Pfennige wie jede andere, das einzige Nominal, das es seit karolingischer Zeit bis ins hohe Mittelalter gab.

Stift Quedlinburg, Beatrix II. von Winzenburg (1138–1160), Pfennig (Brakteat), Quedlinburg. Silber, geprägt (einseitig).

Der Brakteat zeigt Beatrix II. von Winzenburg, die 1138 Äbtissin des Stifts St. Servatius in Quedlinburg wurde und dieses Amt bis zu ihrem Tod 1160 bekleidete. Beatrix ist frontal auf einer Mauer sitzend dargestellt. Sie trägt ein langes, mit Bordüren verziertes und in parallele Falten gelegtes Gewand. Ein Schleier, der in Brusthöhe mit zwei Knöpfen geschlossen ist, bedeckt Kopf und Schultern. In den erhobenen Händen präsentiert sie rechts ein kurzes Lilienzepter und links ein geöffnetes Buch. Die horizontal verlaufende Mauerbrüstung ist durch kleine Rundbögen untergliedert. Oberhalb der Bögen stehen die Buchstaben „BAT-TIRI“. Zusammen mit den beiden Buchstaben „AB“ zwischen rechter Schulter und Hand der Äbtissin sowie dem Namen „BEA-T-RI-X“ zu Seiten ihres Kopfes könnte man „BEATRIX ABBATTIRI“ lesen. Ohne die beiden letzten Buchstaben ließe sich dies als „Beatrix, Äbtissin“ übersetzen; wofür dann „RI“ stehen soll, bleibt aber unklar. Rechts und links der Äbtissin finden sich noch zwei weitere, kleinere Personen mit geöffneten, erhobenen Händen. Sie tragen ebenfalls Schleier, wodurch sie sich als Stiftsdamen ausweisen.
Stolz und erhaben ließ sich Beatrix auf ihrer Münze als Stiftsherrin darstellen. Wie viele andere geistliche Würdenträger, Erzbischöfe, Bischöfe und Äbte, sowie Adlige, Herzöge, Grafen und Edelherren, durfte Beatrix Münzen prägen, weil die Äbtissinnen von Quedlinburg vom deutschen König dieses Recht per Privileg 994 erhalten hatten.
Im 12. und 13. Jh. wurden infolge dieser Vergabe des Münzrechts an Geistliche und Weltliche, aber auch durch Usurpation des Münzrechts aus eigener Machtvollkommenheit die unterschiedlichsten Münzen geprägt. Sie galten in der Regel nur im jeweiligen Einflussbereich des Münzherrn, deckten aber innerhalb dieses Gebiets den Bedarf an Münzgeld. Regelmäßige, oft sogar jährliche Verrufungen, also periodische Außerkurssetzungen der Münzen, steigerten darüber hinaus die Vielfalt der Prägungen. Dabei ließ der Münzherr die alten Geldstücke einsammeln und gab neue Münzen heraus. Man geht von einem Tauschverhältnis von etwa vier alten gegen drei neue Pfennige aus. Der beim Umtausch entstandene Gewinn war für den Münzherrn eine wichtige Einnahmequelle und erklärt unter anderem die Beliebtheit des Prägerechts.
In der zweiten Hälfte des 12. und im frühen 13. Jh. hatten die mitteldeutschen Brakteaten ihre größte Blüte. Die Prägestempel erreichten eine hohe handwerkliche Qualität. Im weiteren Verlauf verloren die Brakteaten dann ihre Kunstfertigkeit, bis schließlich um die Mitte des 13. Jh. die Brakteatenprägung in dieser Region ihr Ende fand.
Die meisten Brakteaten waren schriftlos oder trugen Buchstabenreihungen, deren Sinn heute nur noch schwer oder gar nicht mehr erschlossen werden kann – sofern man davon ausgehen möchte, dass sie tatsächlich einen Sinn hatten. Das erschwert ihre Zuweisung an einen bestimmten Münzherrn, eine Münzstätte und die exakte Datierung. Daher geben Fundmünzen und besonders Schatzfunde mit größeren Mengen an Brakteaten wichtige Hinweise auf Herkunft, Umlaufgebiet und Datierung bestimmter Typen. Nicht wenige solcher Schatzfunde kamen in den letzten Jahrhunderten ans Licht. Teilweise enthielten sie mehrere tausend Stück von verschiedensten Typen. Das ist trotz der Verrufungen nicht verwunderlich, denn die Münzen behielten ja ihren Silberwert, so dass mancher Sparer im Mittelalter offenbar lieber das Silber aufhob, als die alten, ungültigen Münzen gegen neue einzutauschen.
Einer dieser Schatzfunde ist derjenige von Freckleben (Salzlandkreis, Sachsen-Anhalt) am Ostrand des Harzes, der 1860 entdeckt wurde und aus dem auch die vorliegende Quedlinburger Münze stammt. Da die meisten der vielen tausend Brakteaten aus diesem Fund nicht nur künstlerisch anspruchsvoll, sondern auch stilistisch einheitlich sind, nimmt man eine gemeinsame Stempelschneiderwerkstatt an, die wohl in Halberstadt beheimatet und zu Höchstleistungen hinsichtlich Bildkomposition und Stempelschnitt in der Lage war. Brakteaten aus weiteren Prägestätten, wie Arnstein, Falkenstein oder Helmstedt, gehören ebenfalls zu dieser Gruppe. Häufig spricht man deshalb auch von einem einzigen „Halberstädter Brakteatenmeister“, ohne dessen Namen zu kennen. Denn Signaturen und damit der Hinweis auf die Originalität eines Künstlers oder einer Künstlerin waren im Mittelalter unüblich.
Sein Können zeigt sich zum einen in der ausgewogenen Bildkomposition: Die Äbtissin wird durch ihre Größe hervorgehoben, es wird aber genügend Raum für die Brustbilder zweier weiterer Personen sowie für Beiwerk und Schrift gelassen. Trotz der geringen Größe der Münze ist die Dekoration des Gewandes mit Bordüren detailreich ausgearbeitet. Zum anderen – und dies dürfte die größte Leistung sein – ist trotz der geringen Reliefhöhe eine Plastizität erreicht, die den Körper unter dem Gewand auf dem Reliefgrund gekonnt „herausmodelliert“ und sogar noch eine Reliefebene zwischen Figur und Reliefgrund zulässt, nämlich die Mauerbrüstung mit den beiden Personen darüber. Eine solche Könnerschaft findet sich auch sonst in der romanischen Kleinkunst, etwa bei Elfenbeinschnitzereien oder Goldschmiedearbeiten, die Heilige und Christusfiguren auf vergleichbare Weise wiedergeben, aber auch im Rahmen der Bauplastik an Kirchen. Die Ähnlichkeiten belegen, dass der „Halberstädter Meister“ mit den anspruchsvollsten Werken der romanischen Kunst tief vertraut war.
Um die Jahrtausendwende entwickelte sich diese Stilrichtung, die erstmals in der europäischen Kunstgeschichte auf antike Architektur- und Formensprache zurückgriff und seit dem 19. Jh. „Romanik“ genannt wird. Von Deutschland und Frankreich breitete sie sich auch in Spanien, Skandinavien, England und darüber hinaus aus. Typisch für die Kleinkunstwerke dieser Zeit sind die als Ornamente und zur Gliederung eingesetzten Architekturelemente. Diese können wiederum auf byzantinische Vorbilder zurückgeführt werden. Auch auf dem vorliegenden Brakteaten ist ein solches gliederndes Bauelement mit der Mauerbrüstung vorhanden.

Zum Weiterlesen

  • F. Berger, Die mittelalterlichen Brakteaten im Kestner-Museum Hannover, Hannover 1993, 172–173, Nr. 1403.
  • M. Mehl, Die Münzen des Stiftes Quedlinburg, Hamburg 2006, 371, Nr. 62.
  • B. Kluge, Brakteaten. Mitteldeutsche Brakteaten aus dem Münzkabinett der Staatlichen Museen zu Berlin, Leipzig 1984, VIII.
  • H. Reitz, „Brakteaten des Halberstädter Meisters“, in: Jahrbuch für Numismatik und Geldgeschichte 62, 2012, 205–216.
  • A. Hartmann-Virnich, Was ist Romanik?, Darmstadt 2014.

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