Andrea Tröller-Reimer, Dirk Neuber
VIRTUELLE AUSGRABUNGEN MIT DURCHBLICK
Hochauflösende industrielle Computertomographie von archäologischen Artefakten
Der vorliegende Text ist als stark gekürzte Fassung in der FAN-Post 2022 erschienen. Andrea Tröller-Reimer ist Restauratorin für Altertumskunde. Ihre Tätigkeitsschwerpunkte sind die Metall- und Glasrestaurierung, die Restaurierung und Dokumentation von Blockbergungen, die Herstellung von Kopien und Kolorierung sowie Auswertung von CT-Daten ausgewählter Funde mittels VGSTUDIO MAX. Dr. Dirk Neuber ist Kommunikationsmanager für Industrielle Röntgeninspektion und Computertomographie bei Waygate Technologies in Wunstorf.
Inhalt
Wie funktioniert Industrielle CT?
Alle Informationen im Volumendatensatz
Durchblick für Restauratoren
Moderne Computertomographie in Niedersachsen
Gessel: Nadeln und Fäden
Virtuelle Freilegung einer Blockbergung: Visbecker Sax
Digitales Entrosten – Freilegung per Mausklick
Mariä Wiederauferstehung
Digitales Schnittholz
Durchblicke – Ausblicke
Als Wilhelm Conrad Röntgen 1895 die später im deutschsprachigen Raum nach ihm benannten X-Strahlen entdeckte, eröffneten sich nicht nur für die medizinische Diagnostik ungeahnte Möglichkeiten: Auch in der industriellen zerstörungsfreien Prüfung, etwa von Schweißnähten und Gussteilen, kamen bald Röntgenfilme und seit einiger Zeit zunehmend auch digitale Bildgebungstechniken (CR/DR) massenhaft zum Einsatz. Auch die innere Struktur von Kulturobjekten und archäologischen Artefakten konnte nun zerstörungsfrei analysiert werden – seien es zum Beispiel die sich überlagernden verborgenen Schichten von giftigem, aber hoch absorbierendem Bleiweiß auf den Leinwänden alter Meister oder andererseits der zerstörungsfreie Blick in bandagierte Mumien.
Als ab den 1970er Jahren dann die dreidimensionale Computertomographie (CT) in ersten Kliniken Einzug hielt, wurden auch beliebige virtuelle Schnittbilder ohne Überlagerungen möglich. Welche Blüte die medizinische CT von Mumien mittlerweile erreicht hat, veranschaulichte im Jahr 2018 eine Ausstellung im Hildesheimer Roemer- und Pelizaeus-Museum mit der meisterhaften 3D-Visualisierung der Mumie der Ta-cheru.1 Doch während die allseits bekannten medizinischen CT-Scanner eine Detailerkennbarkeit von wenigen hundert Mikrometer erreichen, können moderne industrielle Computertomographen Details von wenigen Mikrometern oder sogar noch weniger sichtbar machen. In diesem Artikel wollen wir anhand zahlreicher überwiegend niedersächsischer Beispiele erklären, wie diese Systeme funktionieren und welche Möglichkeiten sich damit für die Forschung und Restaurierung archäologischer Objekte ergeben.
Wie funktioniert Industrielle CT?
Im Gegensatz zu medizinischen Scannern, bei denen Röntgenröhre und Detektor mit festem Abstand um den horizontal liegenden Patienten rotieren, wird bei der industriellen CT das Untersuchungsobjekt auf einem Drehtisch positioniert und, während er im Röntgenstrahl rotiert, hoch aufgelöste digitale 2D-Röntgenbilder aufgenommen. Diese werden anschließend von Hochleistungscomputern zu virtuellen 3D-Volumendatensätzen rekonstruiert. Insbesondere mit der in Wunstorf entwickelten Mikro- und Nanofokus Röntgenröhrentechnik2, die besonders scharfe Bilder kleinster Details ermöglicht, können heute nicht nur Metallrelikte untersucht werden, die die Röntgenstrahlung stark absorbieren, sondern selbst noch mikroskopisch kleine einzelne Faserreste dargestellt werden. Seit der Jahrtausendwende hält derartige CT-Technik zunehmend Einzug in die Qualitäts- und Forschungslabore insbesondere der Elektronik-, Automobil-, und Luft- und Raumfahrtindustrie sowie materialwissenschaftliche Forschungsinstitute und spielt heute auch in der 3D-Metrologie und produktionsnahen Prozesskontrolle eine wichtige Rolle.
Für einen solchen industriellen 3D-Scan wird zunächst eine Serie von zweidimensionalen digitalen Röntgenbildern aufgenommen, während die Probe in kleinen Schritten (<0,25°) um 360° gedreht wird. Da bei derartigen CT-Systemen insbesondere kleine Proben dicht vor den Brennfleck der Röntgenröhre positioniert werden können, kann so ein geometrisch stark vergrößertes Röntgen-Durchstrahlungsbild auf den Digitaldetektor geworfen werden. Dieses ist um ein Vielfaches detailreicher ist als bei medizinischen CT-Systemen. Durch Rotation des Objekts werden für qualitativ hochwertige CT-Ergebnisse bis zu 2000 solcher 2D-Durchstrahlungsbilder aufgenommen. Diese Projektionen enthalten Informationen über die Position und die Dichte von Strahlung absorbierenden Objektmerkmalen in der Probe.
Alle Informationen im Volumendatensatz
Durch die anschließende numerische Rekonstruktion ist es möglich, für jedes Volumen-Pixel – kurz „Voxel“ – innerhalb des gescannten Objekts einen spezifischen Grauwert zu bestimmen. Dieser erlaubt für jedes Voxel Rückschlüsse auf das jeweilige Material und seine Dichte. Bereiche mit stark absorbierenden Materialien wie Metalle aus dem unteren Bereich des Periodensystems (Eisen, Kupfer, Zinn, Blei, Gold etc.) lassen kaum Strahlung zum Detektor durchdringen. Sind lufthaltige Poren oder Risse im Metall enthalten, steigt bei den Strahlwegen der Grauwert auf dem Detektor dagegen an. Organische Materialien hingegen absorbieren nur schwach. Der resultierende Volumendatensatz kann dann in Form von virtuellen Schnitten in beliebige Richtungen oder als dreidimensionale Ansicht visualisiert werden. Jedes Material ist im 3D-Volumen prinzipiell durch sein spezifisches Grauwertespektrum segmentierbar. So können dann auch unterschiedliche Materialien zwecks besserer Visualisierung anhand ihrer Grauwerte in der Farbe des Originalmaterials eingefärbt werden oder beispielsweise durch Ausblendung der spezifischen Grauwerte des umgebenden Erdreichs in einer Blockbergung verborgene Artefakte per Mausklick zerstörungsfrei freigelegt werden.
Durchblick für Restauratoren
Industrielle CT bietet nicht nur dem Restaurator den unschätzbaren Vorteil, dass der Restaurator genau weiß, was ihn unter der Oberfläche des Fundes erwartet. Im 3D-Volumen bleibt zudem das Artefakt auch als eine Art „Digitaler Zwilling“ in seinem Originalzustand vor weiteren mechanischen Freilegungen und restauratorischen Behandlungen dokumentiert.
Um 2005 machte die industrielle CT erstmalig weltweit Schlagzeilen, als Forscher das komplexeste Instrument der Antike, den stark korrodierten Antikythera-Mechanismus, scannten und damit schichtweise Einblicke auf Präzisionszahnräder und verborgene Beschriftungen in seinem Inneren erlaubten.3 In Deutschland zählte in dieser Zeit vor allem das Landesmuseum Württemberg in Zusammenarbeit mit der FH Aalen zu den Pionieren bei der Anwendung hochauflösender industrieller CT zur Untersuchung archäologischer Objekte.
Es konnte u.a. nachgewiesen werden, dass kontaktlose Mikrofokus-CT die Herstellung exakter Replikate von fragilen Objekten erlaubte, für die konventionelle Silikon-Abformverfahren nicht infrage kamen. Der zerstörungsfreie Blick ins Innere beantwortete auch zahlreiche konservatorische Fragestellungen, etwa zur exakten Lage und Ausdehnung alter und neuer Risse oder zur Eindringtiefe von Konservierungsmitteln.4
Seither können Restauratoren insbesondere in den südlichen Bundesländern in ihren Laboren nicht nur auf modernste 2D-Röntgentechniken zugreifen, sondern haben auch zunehmend Zugriff auf Groß-CT-Systeme wie etwa am FEM in Schwäbisch Gmünd. Dort sind neben zahllosen Blockbergungen beispielsweise auch das frühkeltische Fürstinnengrab von der Heuneburg sowie der ca. 40.000 Jahre alte Löwenmensch von der Schwäbischen Alb dreidimensional analysiert worden.5 Ein weiterer Phoenix VItome|x L 450 Großtomograph wird gerade im Neubau des Römisch-Germanischen Zentralmuseums in Mainz in die Restaurierungswerkstätten integriert.
Moderne Computertomographie in Niedersachsen
Im Landesamt für Denkmalpflege in Niedersachsen (NLD) war in den Jahren 2009 /2010 ein zweijähriges Forschungsprojekt über Blockbergungen aus dem Altsächsischen Gräberfeld von Immenbeck der Beginn des Einsatzes von CT für die Auswertung von archäologischen Objekten. Danach folgten Sensationsfunde wie der 2011 im Block geborgene Goldschatz von Gessel, der noch in einem Hochenergie-Tomographen in Hattingen gescannt und später im 3D-Druck nachgebildet wurde. Ein weiterer Scan von Objekten aus dem Fundzusammenhang des Goldhortes war 2013 der Beginn einer seither andauernden fruchtbaren Zusammenarbeit zwischen dem NLD und dem in Wunstorf beheimateten Markt- und Technologieführer im Bereich der industriellen Computertomographie, Waygate Technologies (ehemals GE Inspection Technologies)6. Die meisten der in diesem Beitrag präsentierten Ergebnisse entstanden im Rahmen dieser Kooperation, wobei die Scans und erste Visualisierungen in Wunstorf stattfanden, die detaillierte Segmentierung und virtuelle Auswertung der Volumendatensätze dann am NLD.
Den Wunstorfer Forschern war es 2010 mit einer neu entwickelten leistungsstarken 300 kV Mikrofokus Röntgenröhre gelungen, eine aus dem spätantiken Vorderen Orient stammende Bleirolle mit eingeritzten mandäischen Schriftzeichen zu tomographieren – obwohl Blei aufgrund seiner hohen Röntgenabsorption gemeinhin als Abschirmungsmaterial für Röntgensysteme genutzt wird. Das viel beachtete Experiment zeigte, dass es mit dieser Methode möglich war, die seit anderthalb Jahrtausenden verborgene Schrift sichtbar zu machen. Die Heidelberger Partnerfirma Volume Graphics entwickelte dazu für Ihre CT-Analyse-Software eine spezielle Funktion, mit der das 3D-Volumen der Rolle virtuell abgerollt werden konnte. So konnte der Inhalt – ein Beschwörungszauber – entziffert und übersetzt werden.7 Die Rolle hingegen konnte im Originalzustand konserviert bleiben und wurde nicht wie viele zuvor gefundene derartige Objekte beim Abrollen zerstört.
Gessel: Nadeln und Fäden
Im selben MikroCT-System (Phoenix V|tome|x L300) im Wunstorfer Applikationslabor von Waygate Technologies, in dem die mandäische Bleirolle gescannt worden war, wurden 2013 beim ersten Besuch des NLD-Teams die zum Gesseler Goldhort gehörenden Bronzenadeln samt umgebender Textilreste eines vergangenen Leinensäckchens gescannt. Den Korrosionsprodukten der Nadeln und deren materialbedingter antibakterieller Wirkung ist es zu verdanken, dass sich an ihren Oberflächen Reste von Fasern erhalten haben. Die anschließende Visualisierung des tomographierten Textils8 erfolgte durch die Markierung der einzelnen Faserstränge in den 2D-Schichtbildern. Dieser aufwendige Prozess der Fasermarkierung konnte damals leider noch nicht automatisiert durchgeführt werden, da der Grauwert der Fasern ähnlich dem der umgebenden Erdreste war.
Daher erfolgte eine manuelle Markierung der Faserstränge Schicht für Schicht. Durch die Größe des Datensatzes war dies ein sehr langwieriger Prozess, der noch dadurch erschwert wurde, dass der Faserverlauf oft nicht eindeutig nachvollziehbar war. Der hochauflösende Scan der Nadeln mitsamt den Fasern erlaubte es, diesen einzigen und letzten Beweis für eine Umhüllung des Hortes mit Textil vollständig virtuell zu dokumentieren (siehe Titelbild). Darüber hinaus offenbarte dieser Scan auch die exakte Anzahl der Bronzenadeln: Waren es augenscheinlich beim ersten Komplettscan in Hattingen nur 4 Nadeln gewesen, so konnte in dem Mikro-CT-Scan eine fünfte sowie eine fragmentierte sechste Nadel bereits bei der ersten Durchsicht der Schichtbilder entdeckt werden. Ebenso konnte die Verzierung der Nadeln durch Ausblenden der Fasern sichtbar gemacht werden, ohne dass das Fasermaterial von den Nadeln entfernt werden musste.
Virtuelle Freilegung einer Blockbergung: Visbecker Sax
Im Juni 2016 kam das Restaurierungsteam von „VARUSSCHLACHT im Osnabrücker Land – Museum und Park Kalkriese“ mit der Blockbergung eines Sax-Schwertes aus dem frühmittelalterlichen Gräberfeld von Visbek nach Wunstorf. Die Abbildung zeigt, wie das Objekt für den Scan auf dem Drehtisch eines begehbaren Phoenix V|tome|x L 450 Computertomographen platziert wird. Dank seiner hochauflösenden Mikrofokus Röntgenröhre und seiner leistungsstarken Minifokus-Röhre kann das CT-System sowohl für Präzisionsscans kleiner schwach absorbierender Objekte als auch für hoch absorbierende große und bis zu 100 kg schwere Objekte verwendet werden.
Die virtuellen Schnitte durch das Scanvolumen des zuvor schon klassisch zweidimensiononal geröntgen 75 cm langen Sax offenbarten schon kurz nach dem Scannen zwei Überraschungen: Die Scheide war mit Nieten verziert, die wiederum mit sehr kleinen Perldraht-Ornamenten verziert waren. Schon anhand der im Vergleich zum Eisen höheren Grauwerte konnte vermutet werden, dass es Silbernieten waren – ein Verdacht, der sich bei der anschließenden Freilegung bestätigte. Bei näherer Untersuchung des Saxgriffes wurde zudem ein weiteres kleines Messer auf der rechten Seite unter dem Schwert entdeckt. Dank der CT konnte so nicht nur ein exaktes 3D-Modell des Schwertes und seiner Beigaben dokumentiert werden, sondern bei der anschließenden Freilegung war von vorneherein klar, wo reine Erde zu erwarten und wo besondere Vorsicht geboten war, weil man sich wichtigen Details näherte. Die mittels CT gewonnenen 3D-Informationen sind somit ein unschätzbarer Vorteil, weil sie einerseits Zeit sparen und andererseits die Qualität der Restaurierung erhöhen helfen. Als unschöne Nebenwirkung kann eine CT allerdings auch zu herben Enttäuschungen führen, wenn der virtuelle Blick in eine vielversprechende Blockbergung hohe Erwartungen schon im Frühstadium zerplatzen lässt…
Digitales Entrosten – Freilegung per Mausklick
Wenn metallische Objekte im Boden korrodieren, nimmt ihre Röntgenabsorption aufgrund des aufgenommenen Sauerstoffs gegenüber dem verbleibenden reinen, dichteren Metall ab. Damit eröffnet sich die Möglichkeit, im Histogramm des CT-Volumendatensatzes per Mausklick die spezifischen Grauwerte des den verbleibenden Metallkern umgebenden korrodierten Materials und der anhaftenden Erde einfach auszublenden. Durch eine aufwendige virtuelle Nachbearbeitung des CT-Volumendatensatzes und die Einfärbung der Einzelobjekte konnte beispielsweise ein 2018 in der Grube St. Jürgen (St. Georg) in Sankt Andreasberg gefundenes Konglomerat von 16 vermutlich aus dem 16. Jahrhundert stammenden Bergeisen detailliert analysiert werden.9 Bei einem der Bergeisen konnte sogar ein kreuzförmiger Prägestempel nachgewiesen werden.
Ein anderes schönes Beispiel für diese zerstörungsfreie Methode ist eine 2013 in Westerloh im Hümmling gefundene verbackene Münzrolle.10 Die Münzen waren fast bis zur Unkenntlichkeit mit einer Korrosionsschicht in variierender Stärke umhüllt. Die für eine Datierung erforderliche Trennung und Freilegung der Münzen hätte – voraussichtlich kombiniert mit einer nasschemischen Behandlung – zu erheblichen Substanzverlusten geführt. Ein Schnitt durch den Stapel zeigte, dass es sich insgesamt neun Münzen handelte. Nach einem Mikro-CT Scan und seiner 3D-Rekonstruktion war es hingegen mit vergleichsweise wenig Aufwand möglich, sich virtuell Schicht für Schicht durch den Münzstapel zu scrollen. Dabei wurden immer wieder Symbole und Herrscherportraits sichtbar, die eine zerstörungsfreie Einordnung des Fundes in die Mitte des 4. Jahrhunderts erlaubten.
Die erzielten Ergebnisse, die gelungene Datierung der einzelnen Münzen und die Nutzung der erzeugten Bilder im musealen Kontext rechtfertigten letztendlich den Entschluss, dass „Münzröllchen“ im zusammenhängenden Befund zu belassen und so der Nachwelt zu erhalten.
Ein weiteres Beispiel für virtuelle Freilegungen ist eine eiserne Gürtelschnalle mit Silberauflagen aus dem altsächsischen Gräberfeld von Immenbeck, die teilrestauriert und stark korrodiert bei Waygate Technologies gescannt wurde. Nachdem im CT-Volumen das umgebende Material ausgeblendet worden war, konnten sowohl der Eisenring als auch seine Silberauflagen visualisiert werden. Auch konnten weitere, bei der zuvor erfolgten Röntgenuntersuchung nicht detektierte Verzierungen sichtbar gemacht werden.
Mariä Wiederauferstehung
Ein ganz besonderer und mit nur zwei Zentimetern winzig kleiner und völlig unscheinbar wirkender Grabungsfund aus dem Kloster Lüne11 offenbarte erst mit Hilfe modernster Technologie und Untersuchungsmethoden seine Geheimnisse: Schon kurz nach dem Scan in Wunstorf entstand die beeindruckende Miniatur einer Madonnenfigur mit Kind am Bildschirm. Der feine Gesichtsausdruck, aber auch Kopfschmuck und Gewandfalten der aus Silber hergestellten kleinen Madonna weisen auf höchste Handwerkskunst hin. Die Freilegung und Entfernung der Korrosionsschicht stellt bei einer so filigran angefertigten Figur eine enorm hohe Herausforderung dar. Um die Gefahr einer irreversiblen
Beschädigung zu vermeiden und dennoch zu guten Ergebnissen zu gelangen, wurde der Schwerpunkt auf die Bearbeitung und Auswertung der CT-Daten in der Restaurierungswerkstatt des NLD gelegt.
Mit wertvoller Unterstützung der Firma Formwerk in Hannover erfolgte die Weiterbearbeitung der Daten im Sinne einer virtuellen Ergänzung bzw. Aufbereitung. Dies hat es dann wiederum gestattet, die Madonnenfigur – befreit von ihrer Jahrhunderte alten Korrosionsschicht – im 3D-Druck Verfahren mit allen Details wieder auferstehen zu lassen. So ist es möglich, die Originalfigur mit ihrer unter der Korrosionsschicht erhaltenen Ausdruckskraft zu bewahren und im direkten Kontext mit der virtuell freigelegten Kopie zu präsentieren.
Digitales Schnittholz
Während die klassische Dendrochronologie zur Datierung etwa von historischen Gebäuden auf Querschnitte oder Bohrkerne zurückgreifen kann, war diese Methode bei einzigartigen Holzkunstwerken oder Musikinstrumenten aufgrund ihres zerstörerischen Charakters lange Zeit nicht anwendbar. Kurz nach der Jahrtausendwende gelang es jedoch an der Fachhochschule Aalen erstmals, mithilfe einer von phoenix|x-ray (heute Waygate Technologies) in Wunstorf gebauten Mikrofokus-Röntgenröhre drei hölzerne keltische Kultfiguren besonders hochauflösend zu scannen. Hierdurch konnten im zerstörungsfreien virtuellen Schnitt nicht nur Markstrahlen und Jahresringe, sondern sogar einzelne Holzzellen sichtbar gemacht werden. So gelang beispielsweise nicht nur der Nachweis, dass alle drei Figuren aus derselben Eiche geschnitzt worden waren, sondern es wurde auch die weltweit erste virtuelle dendrochonologische Untersuchung durchgeführt. Hierdurch konnten die drei Kultfiguren auf das Jahr 127 v. Chr. exakt datiert werden.12 Auch bei einigen in Schöningen gefundenen Holzartefakten konnten kürzlich mittels Mikrofokus-CT die das Klima jener Jahre vor der letzten Eiszeit widerspiegelnden Jahresringe sehr gut sichtbar gemacht werden – freilich ohne eine Chance, sie nach 300.000 Jahren noch dendrochronologisch datieren zu können…
Durchblicke – Ausblicke
Nachdem zweidimensionales Röntgen schon seit Dekaden zum Standardhilfsmittel bei der Restaurierung archäologischer Artefakte gehört, dokumentiert seit kurzem industrielle CT diese hochauflösend und dreidimensional in ihrem Originalzustand. Sie erlaubt exakte Vorhersagen, was in einer Blockbergung, einer Urne oder in völlig korrodierten Konglomeraten zu erwarten ist, ob sich restauratorische Maßnahmen lohnen und sagt zugleich auch millimetergenau voraus, an welchen Stellen bei der Freilegung besondere Sorgfalt geboten ist. Bei wertvollen Holzobjekten werden zerstörungsfreie Baumringanalysen möglich und mittels 3D-Druck können detailreiche exakte Kopien nicht nur der für Laserscanner zugänglichen Oberflächen, sondern auch des Innenlebens erstellt werden.
Dank der enormen technologischen Fortschritte der letzten Jahre hin zu immer höher aufgelösten Ergebnissen nach immer kürzeren Scan- und Rekonstruktionszeiten ist industrielle CT momentan in der Aerospace-, Automobil- und Elektronikindustrie längst auf dem Sprung aus den Forschungs- und Qualitätslaboren an die Produktionslinien. Angesichts ihrer unschätzbaren Vorteile bleibt auch weiterhin zu wünschen, dass immer mehr Bundesländer die Kosten nicht scheuen, ihre Museen und Restaurierungswerkstätten mit industrieller CT-Technologie auszustatten.
Anmerkungen
1 ↑ Ausführliche Informationen und ein eindrucksvolles Video auf https://www.volumegraphics.com/de/lp/ta-cheru.html.
2 ↑ Die ersten industriell anwendbaren Mikrofokus-Röntgenröhren wurden 1982 von Feinfocus, die ersten Nanofokus-Röhren 2001 von phoenix|x-ray in Wunstorf entwickelt.
3 ↑ Video virtueller Schnitte durch das Objekt: https://youtu.be/6Wp3wL8g2Eg.
4 ↑ Erwin Keefer: Geglückter Durchbruch: Kelten digital. In: Archäologie in Deutschland 2,2005, 6-11.
5 ↑ https://www.fem-online.de/sites/default/files/pdf/Flyer_DINlang_fem_CT_Arch_fl_2017.pdf
6 ↑ www.waygate-tech.com Besonderer Dank für die langjährige Unterstützung geht an Dipl. Phys. Frank Sieker sowie das Applikationsteam unter Dr. Gennadiy Melnyk von Waygate Technologies in Wunstorf.
7 ↑ Vgl. z.B. Dirk Neuber und Christof Reinhart: Geheimnisvolle Bleischriftrolle der Mandäer: Moderne Computertomographie erlaubt Entschlüsselung eines antiken Rätsels. In: Metall 12/2012, S. 580-582.
8 ↑ Ausführlich dazu: Tina Heintges und Andrea Tröller-Reimer: Die Restaurierung der Bronzenadeln des Goldhortes von Gessel und die begleitende computertomografische Auswertung. In: Berichte zur Denkmalpflege in Niedersachsen 2/2014, S. 64-65.
9 ↑ Tröller-Reimer, Ein Bergeisendepot aus der Grube St. Jürgen (St. Georg) in Andreasberg-restauratorische Untersuchungen mit Hilfe der Computertomographie. In: W. Ließmann/O. Langefeld/M. Bock (Hrsg.), „konservierte Zeit – Glanzlichter der montanen Vergangenheit des Harzes“. Beiträge aus dem Kolloquium am 1. Juni 2019 in Sankt Andreasberg (Clausthal-Zellerfeld 2019) S.117-126.
10 ↑ Ausführlich zum Folgenden siehe Monika Lehmann und Andrea Tröller-Reimer: Micro CT im Dienst der Wissenschaft – die virtuelle Freilegung der „Münzrolle“ aus Westerloh im Hümmling, Landkreis Emsland. In: Berichte zur Denkmalpflege in Niedersachsen 2/2015, S. 76-78. Wieder abgedruckt hier
11 ↑ Monika Lehmann, Dorte Schaarschmidt, Andrea Tröller-Reimer: Viel Masse – aber auch Klasse. Das Fundmaterial der Grabungskampagne 2013 aus dem Kloster Lüne, Fundstelle 311. In: Berichte zur Denkmalpflege in Niedersachsen 1/2018, S. 16-17.
12 ↑ Ausführlich und anschaulich dazu Keefer: Geglückter Durchbruch, S. 8 ff.
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