7. DAS GÖTTINGER STADTSIEGEL

Wer auch immer durch Göttingen wandert, jede Person wird es früher oder später auf jedem Abflussdeckel sehen – das Wappen Göttingens. Den meisten wird dabei jedoch nicht bewusst sein, dass das Motiv dieses Wappens nach Angaben des Stadtarchivs tatsächlich wohl vom ältesten Siegel der Stadt stammt, und damit auf eine lange Geschichte zurückblickt.

Zu jenem ersten Siegel der Stadt sind heute noch Abdrücke erhalten, welche sich aktuell im Stadtarchiv Göttingen, dem städtischen Museum und der Sammlung des Diplomatischen Apparats der Göttinger Universität befinden. Den besten Eindruck des Siegelmotivs gibt uns wohl der im Durchmesser 6,1 cm große Abdruck des Gießers Hermann Eitzen aus dem Stadtarchiv (Abb. 1). In runder Form zeigt dieser das Siegelbild, welches dem heutigen bereits beschriebenen Wappenbild gleicht, und um jenes sich die Umschrift + SIGILLVM [B]VR[GENSIU]M IN GOTIGE[N] windet. Eine lateinische statt einer volkssprachlichen Umschrift war bis ins 13. Jahrhundert üblich (Stieldorf 2004, 30).

Abb.1: Stadtsiegel der Stadt Göttingen aus dem 13. Jahrhundert; runder Siegelabdruck in fester steinernde Masse (Beton?); d: 6,1 cm; Umschrift: + SIGILLVM [B]VR[GENSIU]M IN GOTIGE[N]; Siegelbild gut erhalten, Umschrift teilweise unleserlich; Standort: A4 Siegel und Stempelkartei des Stadtarchivs Göttingen, Acc.-Nr. 2040/ 2011 (Foto: Lara Luisa Stahnke).

Die universitäre Sammlung bewahrt einen Wachsabdruck des gleichen Siegelstempels (Abb. 2). Seit der römischen Zeit und über das gesamte Mittelalter hinweg war Wachs in Europa der verbreitetste Siegelstoff. Seit dem zwölften Jahrhundert mischte man dem Wachs zunehmend Farbpigmente bei, um verschiedene Positionen oder Ämter der Siegelführer zu kennzeichnen (Stieldorf 2004, 59). Jedoch hat zu keiner Zeit ein einheitliches System bestanden. Neben dem Wachs gebrauchte und gebraucht man heute noch vor allem Lacke und Papier als Siegelmasse (Stieldorf 2004, 22). Zudem gab es bereits seit dem ersten Jahrhundert nach Christus Siegel aus metallenen Abdruckmassen. Diese werden Bullen genannt und waren den kaiserlichen und päpstlichen Siegelführern vorbehalten. Meist verwendete man im Früh- und Hochmittelalter jedoch eine ungefärbte, also gelblich bräunliche Masse (Stieldorf 2004, 59). Zu dieser Art gehört auch der dunkelbraune Abdruck der Universität. Er könnte also bereits viel älter sein, als der Abdruck des Stadtarchivs von Hermann Eitzen, welcher ein Gießer aus dem 20. Jahrhundert war. Eine Datierung des Abdrucks seitens der Universität wurde jedoch bisher nicht vorgenommen.

Abb. 2: Stadtsiegel der Stadt Göttingen; runder Siegelabdruck in Wachs; d: 6,4 cm; Umschrift: [+] [S]IGILL[UM] · B[VRGENS]IUM IN GOTIGE[N] (Foto: Sammlung Universität Göttingen).

Die Siegelbilder beider Abdrücke sind gut erhalten, lediglich die Umschriften sind teilweise nicht mehr lesbar. Um das Siegel nun interpretieren zu können sind stets vielfältige historische Faktoren und Einflussquellen zu beachten (Winterer 2009, 189). So ist es wichtig die kommunale, herrschaftliche und auch kirchenpolitische Lage in der Zeit der Verwendung und Erstellung des Siegels zu berücksichtigen, die wirtschaftliche Situation der Stadt muss erfasst werden, sowie der juristische Gebrauch der Siegel und die sozialen Gegebenheiten der Zeit, um etwaige Statusinszenierungen zu verstehen. Dabei erschwert die Interpretation meist, dass insbesondere aus dem Mittelalter nur wenige dieser Faktoren quellensicher überliefert sind und selbst das Gebilde der mittelalterlichen Stadt als solche heute noch nicht gänzlich erforscht ist. Dazu kommt, dass bereits die Datierung eines Siegels schwer zu bestimmen ist, da zwischen der Ersterwähnung eines Siegels, dem nachgewiesenen Siegelgebrauch, und den tatsächlichen materiellen Überlieferungen unterschieden werden muss. Es bleibt daher meist nicht viel mehr, als Schätzungen zu vertrauen, welche auf einer Analyse aller eben genannten Faktoren basieren, und so wird das erste Siegel Göttingens vom Stadtarchiv heute um das Jahr 1278 datiert.

Der dargestellte Löwe weist wohl eindeutig auf die damalige Zugehörigkeit Göttingens zum welfischen Territorium, dem Herzogtum Braunschweig-Lüneburg, hin. So zeigen auch andere welfische Städte das Wahrzeichen Heinrichs des Löwen, wie beispielsweise das Siegel Braunschweigs (1231) (Abb. 3) und Hannovers (1266) (Abb. 4).

Abb. 3: Stadtsiegel der Stadt Braunschweig von 1231; runder Faksimilieabdruck. + SIGILLVM·BV[RG]ENSIVM·IN·BRVNESWIC:; nach links schreitender Löwe über stilisierter zinnenbewährter Burgmauer mit Tor, umgeben von vier Türmen, über dem Löwen stilisierte Stadtabreviatur, Stadtarchiv Braunschweig (Foto: Wikipedia).

Abb. 4: Stadtsiegel der Stadt Hannover von 1266; nach links schreitender Löwe über stilisierter zinnenbewährter Burgmauer mit Tor, daneben zwei Türme; Umschrift: + SIGILLVM BVRGENSIVM IN HONOVERE; Siegel aus dem Urkundenbuch der Stadt Hannover. (Foto: Münchner Digitalisierungs Zentrum).

Die Türme darüber, zusammen mit dem als Stadtmauer zu interpretierenden Bogen, stellen eine stilisierte Stadt dar, womit das Siegel zu dem Typus des sogenannten Stadtabbreviatursiegel gehört (Stieldorf 2004, 25). Solche kamen vermehrt seit dem zwölften Jahrhundert im Zuge der Ausweitung des Siegelwesens auf. Wo die heute erhaltenen Siegel zuvor zumeist typisierte Bildnisse von Personen zeigten, welche durch ihre Attribute oder Insignien identifiziert, oder einem bestimmten Amt zugeordnet wurden, so kamen seitdem Siegel hinzu, die auf Personen verzichteten und stattdessen Architekturszenerien, Schiffe, oder Tiere und Phantasiewesen zeigten (Stieldorf 2004, 26). Zwar haben Architekturgebilde auch vorher bereits teilweise die Bullen geziert, jedoch stets auf den Reversen als Schutz vor Fälschungen, nicht als eigenständige Motive des Hauptsiegels (Stieldorf 2004, 25-26). Als Grund dieses Aufkommens neuer Siegeltypen wird die Ausweitung der zur Siegelführung Berechtigten in dieser Zeit angenommen, denn im zwölften Jahrhundert bildeten sich die ersten Städte mit ihren Stadtrechten und einer organisierten Form der Verwaltung heraus.

Ein niedergeschriebenes und allgemein verbindliches Siegelrecht aus dieser Zeit ist nicht bekannt (Stieldorf 2004, 54). Bevor die Siegel seit der französischen Revolution zunehmend durch die Unterschrift verdrängt wurden (Stieldorf 2004, 14), mussten sie jedoch die Funktion innegehabt haben, rechtsgeschäftliche Urkunden zu beglaubigen oder die Unversehrtheit bestimmter Objekte sicherzustellen, diese mithin zu „versiegeln“ (Stieldorf 2004, 32; Diener-Staeckling 2009, 223-224). Das Siegelbild und dessen Umschrift sollten bis dahin also klar den Siegelführer zu erkennen geben, damit der Siegelabdruck als rechtliches Beweismittel gelten konnte (Stieldorf 2004, 23; Diener-Staeckling 2009, 223). Die Bilder der aufkommenden Stadtsiegel verdeutlichten daher oft die herrschende Spannung zwischen dem Willen zur Selbstverwaltung der Städte und der Person oder der Familie, welche die Herrschaft für sich beanspruchte. Im Falle Göttingens also das Verhältnis der Stadtgemeinde Göttingens zu den welfischen Stadtherren. Es ist demnach bezeichnend, dass sich hier über dem welfischen Löwen die Stadtarchitektur erhebt. Im Allgemeinen wird angenommen, dass die Städte, die dieses Zeichen im Siegel trugen, ausdrücklich darauf bedacht waren, sich als selbstständig organisierte, wehrhafte und rechtlich eigenständige Gebilde repräsentieren zu wollen (Stieldorf 2004, 88; Diener-Staeckling 2009, 223; Krauth 2009, 210-211; Winterer 2009, 187). Zu Anfang wird die Architekturszenerie zwar wohl noch die heilige Stadt Jerusalem aus der Johannesapokalypse 21, 12 mit den zwölf Türmen dargestellt haben. Unter anderem deshalb nehmen Forschende an, dass zu Beginn wohl noch die geistigen Stadtherren die „Stadtsiegel“ geführt haben und nicht die Stadtgemeinde als Rechtsperson (Stieldorf 2004, S. 87-88). So wird es vermutlich bei den ersten bekannten „Stadtsiegeln“ von Köln und Mainz, welche zwischen 1114 und 1119 datiert werden, gewesen sein (Stieldorf 2004, 42 und 87-88). Dies wird sich jedoch schnell geändert haben, und so sind auch die Gebilde des Göttinger Siegels als Verdeutlichung der selbstständigen Stadt zu interpretieren. Dafür spräche auch die Umschrift, welche ausdrücklich keinen Stadtherren oder heiligen Schutzpatron, sondern die „Bürger Göttingens“ als Siegelführer hervorhebt. Hier beglaubigten nun also keine Privatpersonen mehr Rechtsgeschäfte, sondern Institutionen, stellvertretend für eine Bürgergemeinde, eine grundlegende Neuerung in dieser Zeit.

Die Selbstständigkeit der Stadt Göttingen, auf welche die Bürger offensichtlich so stolz waren, ist bereits Jahre vor der Datierung des Siegels durch das Stadtarchiv relativ eindeutig belegt. So spricht eine Urkunde aus den Jahren 1201 bis 1208 bereits von Göttinger burgensis, also eine spezifisch städtisch organisierte Einwohnerschaft (Last 1987, 52-53). Dafür sprechen auch Schriftzeugnisse von 1227, welche einen Präfekten, also städtischen Beamten, benennen (Last 1987, S. 53). In einer Urkunde von 1232 bestätigt Herzog Otto das Kind den Göttinger Bürgern (burgensis) die Rechte, die sie zur Zeit seiner Onkel besessen hätten, was daraufhin deutet, dass Göttingen zu der Zeit bereits als Körperschaft eigenen Rechts gewertet werden musste (Last 1987, 56). In einem Brief aus der gleichen Zeit richtet sich der Herzog erneut an die Bürger und die consules, also Ratsherren, der Stadt, was zudem die bereits vorhandene selbstorganisierte Verwaltungsstruktur belegt. Zusammengefasst muss Göttingen als zentrale und eigenständige Stadt mit eigenem Bürgerrat und eigenen Privilegien, also Stadtrechten, mithin wohl bereits Jahre vor 1278 existiert haben. Dies könnte dafür sprechen, dass das Stadtsiegel sogar noch älter ist als geschätzt. Auch dann jedoch kommt dem Zeitpunkt der Siegelerstellung Göttingens im Vergleich zu anderen Städten wohl keine allzu herausragende Stellung zu, das Stadtsiegel als stellvertretendes Kennzeichen einer Stadtgemeinde wird seit Ende des zwölften Jahrhunderts angenommen (Siteldorf 2004, 43).

Zum Ende des 18. Jahrhunderts begann dann die vermehrte Differenzierung der Siegel nach Ämtern innerhalb der städtischen Verwaltung. Solche Spezialsiegel bestehen bis heute. So existierten über die Zeit hinweg innerhalb der Stadt Göttingen beispielsweise eigene Siegel für das städtische Bauamt, das Standesamt oder das Stadtarchiv (Abb. 5).

Abb. 5: Auswahl an Nachweisen der Siegel städtischer Ämter, Standort: A4 Siegel und Stempelkartei des Stadtarchivs Göttingen (Foto: Lara Luisa Stahnke).

Dem Stadtarchiv Göttingen liegt zudem der Abdruck eines scheinbar jüngeren Stadtsiegels vor (Abb. 6). Dieses zeigt im Siegelfeld das Wappen der Stadt Göttingen, wobei der Löwe hier nach (heraldisch) rechts schreitet und die stilisierte Stadtmauer deutlich weniger gebogen ist. Darüber einen Helm mit Helmzier, an der Spitze ein gekröntes G. Dieses war seit jeher Kennzeichen der Stadt Göttingen und wurde beispielsweise auch genutzt, um im 14. und 15. Jahrhundert fremde Münzen in Göttingen gegenzustempeln (s.o.). Die Umschrift des Siegels entspricht der des älteren Abdrucks. Nach Angaben des Stadtarchivs handelt es sich hierbei wohl um ein Siegel aus dem 17. Jahrhundert. Manche institutionellen Siegel wurden über Jahrhunderte hinweg durchgehend verwendet. Eine Änderung des Stadtsiegels im Laufe der Zeit wäre dennoch keine Seltenheit (Stieldorf 2004, 56-58). Gründe dafür gab es viele. So ist es möglich, dass die Petschaft, also das Prägewerkzeug selbst, über die Zeit verloren gegangen oder beschädigt worden ist. Die Siegeländerung kann jedoch auch zur Verhinderung einer sich häufenden Siegelfälschung oder Konsequenz eines Siegelmissbrauchs gewesen sein.

Abb. 6: Stadtsiegel der Stadt Göttingen aus dem 17. Jahrhundert; runder Siegelabdruck in fester steinernde Masse (Beton?); d: 5,8 cm; Umschrift: · SIGILLUM BURGENSIUM IN GOTIGEN; Siegelbild und Umschrift gut erhalten; Standort: A4 Siegel und Stempelkartei des Stadtarchivs Göttingen, Acc.-Nr. 2040/ 2011 (Foto: Lara Luisa Stahnke).

Insgesamt bleibt jedoch auch bei diesem neueren Siegel der Stadt die Kernaussage wohl bestehen: Göttingen repräsentiert sich hier nach Innen und Außen als zwar unter welfischer Herrschaft stehenden, jedoch selbstorganisierten Stadtgemeinschaft mit eigenen Rechten.

Literatur

  • Diener-Staeckling 2009 = Diener-Staeckling, Antje. 2009. Zwischen Stadt und Rat. Das Siegel als Zeichen von städtischer Repräsentation seit dem 14. Jahrhundert. In: Die Bildlichkeit korporativer Siegel im Mittelalter. Kunstgeschichte und Geschichte im Gespräch, Hrsg. Späth, Markus. S. 223-238. Band 1. Wien: Böhlau Verlag.
  • Krauth 2009 = Krauth, Wolfgang. 2009. Stadtsiegel in Soest und Coesfeld. Zwei westfählische Bischofsstädte im Vergleich.In: Die Bildlichkeit korporativer Siegel im Mittelalter. Kunstgeschichte und Geschichte im Gespräch, Hrsg. Späth, Markus. S. 209-222. Band 1. Wien: Böhlau Verlag.
  • Last 1987 = Last, Martin. 1987. Das grundherrliche Gefüge im Bereich der Stadt Göttingen und seine Bedeutung für die Gliederung und Entwicklung der Stadt. In: Göttingen. Geschichte einer Universitätsstadt. Von den Anfängen bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges. Hrsg. Denecke, Dietrich; Kühn, Helga-Maria. Band 1. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
  • Stieldorf 2004 = Stieldorf, Andrea. 2004. Siegelkunde: Basiswissen. Hannover: Hahnsche Buchhandlung Verlag.
  • Winterer 2009 = Winterer, Christoph. 2009. An den Anfängen der Stadtsiegel. Das Volk und seine Anführer zwischen Heiligkeit und feudaler Ordnung. In: Die Bildlichkeit korporativer Siegel im Mittelalter. Kunstgeschichte und Geschichte im Gespräch, Hrsg. Späth, Markus. S. 185-208. Band 1. Wien: Böhlau Verlag.

(Lara Luisa Stahnke)

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